War der Sport, wie wir ihn bis zum Beginn des Jahres 2020 kannten gesellschaftspolitisch aufgewertet oder überwertet? Oder richtig bewertet? Die letzten Wochen und Monate haben gezeigt: es verdichten sich die Anzeichen, dass er möglicherweise sogar unterbewertet war. Anlass zu diesem Eindruck ist, dass bei mir und anderen Kolleginnen und Kollegen mittelweile Fragen auftauchen … wie z.B.:
– Sind wir vielleicht der Illusion erlegen, es hätte etwas Bedeutung, nur weil es präsent in unserer Alltagskultur war, in den Massenmedien?
– Waren wir möglicherweise der Meinung, seine Interaktion mit anderen wichtigen gesellschaftlichen Blöcken (Bildung, Gesundheit, Politik, möglicherweise Wirtschaft) hätte seine Bedeutung weiter aufgeladen?
Die wahrnehmbare Tatsache, dass sich viele Repräsentanten unserer Sportarten und unseres Dachverbandes DOSB auf Augenhöhe mit diesen wichtigen Gesellschaftssystemen sahen, möchte einen dies Glauben machen.
Covid-19 hat uns vor Augen geführt, was und wie Sport wirklich in unserer Gesellschaft zählt, was Politik wirklich von Sport und insbesondere von Sport für Kinder und Jugendliche (und deren Interessen im Allgemeinen) hält und darüber weiß. Und wer sich aus einer riesengroßen „Sportfamilie“ wirklich solidarisch mit Millionen von Kindern und Jugendlichen, Freizeit- und Breitensportlern, Trainerinnen und Trainern, Ehrenamtlichen in Vereinen gezeigt hat, die ihrer Arbeit, ihrem Hobby, Ihrer Leidenschaft und ihrer Aufgabe nicht einmal unter bis vor einem Jahr noch undenkbaren Hygienevorschriften folgen konnten. Und das ist eine einzige Enttäuschung …
Ohne auf die kulturelle Bedeutung des Sportes näher einzugehen: für das Zusammenleben von Menschen, für die frühkindliche Entwicklung, vor allem die körperlich gesunde, ist Sport sehr wichtig. Ich möchte auch nicht alle anderen sonstigen Vorteile des Sportes hier aufführen und zum wiederholten Male wiederkäuen. Durch den Ausbruch der Corona Pandemie wurde die aktive und passive Ausübung von Sport zunächst genauso eingeschränkt wie andere Lebensbereiche. Der hoch- und überdotierte Unterhaltungssport wurde allerdings „blasengerecht“ (mit Löchern, versteht sich!) im Sinne eines Angebots von „Brot und Spiele“, d.h. eines inszenierten Fernsehsports, erlaubt. Diese Tatsache sagt mehr als tausend Worte … „Freiheitsentzug“ von Kindern und Jugendlichen und vielen Millionen Breitensportlern ist eine Sache, Gesundheitsentzug die andere.
Die nachweisliche (!) Unkenntnis der deutschen Bundesregierung über die seit Jahrzehnten bekannten psychosozialen, physischen und psychologischen positiven Wirkungen (z.B. Immunsystemstärkung, geistige und körperliche Fitness) und die Bedeutung des Sportes – besonders bei Kindern und Jugendlichen – ist die größte Erkenntnisniederlage der letzten 50 Jahre für alle, die sich dem Sport und seinen Zielen verpflichtet fühlen, die im Sport hauptberuflich arbeiten, die Sport grundsätzlich mögen und schätzen. Die Folgen für das Sportsystem, nun schon seit über einem Jahr ohne soziale Interaktionen und „Körperschulung“ auszukommen, sind noch nicht abzusehen … aber die Rechnung dafür wird kommen … das ist sicher! Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte hat gerade die erste Teilrechnung geschickt … Triage in der Kinder- und Jugendpsychatrie.
Die für Kinder so wichtige Aktivitäten wie spielen, üben, sich bewegen, trainieren und wetteifern sind praktisch seit März 2020 untersagt. Darüber hinaus lässt sich für alle anderen Sportler und Sportinstitutionen zusammenfassen:
– Alle Vereine und Verbände haben große finanzielle Verluste! Auch im
professionellen Sport drohen Insolvenzen!
– Fitnessstudios über 15 Monaten geöffnet: Fehlanzeige!
– Wettkämpfe in fast sämtlichen Sportarten (mit Ausnahme der „Profis“):
Fehlanzeige!
– Sportunterricht im öffentlichen Schulwesen: Fehlanzeige!
– Deutsche Meisterschaften in der großen Mehrheit der Sportarten:
Fehlanzeige! Ebenso bei vielen Welt – und Europameisterschaften
– Mitgliederzuwachs in Vereinen: Fehlanzeige! Ganz im Gegenteil …
– Präventive Sportangebote: Fehlanzeige! Gesundheitsentwicklung der
Präventiv-Trainierenden: Fehlanzeige!
– Ausbildung für zukünftige Sportlehrerinnen und Sportlehrer an
Fachhochschulen und Universitäten: überwiegend Fehlanzeige!
Braucht es noch mehr, um einen Bedeutungsverlust zu dokumentieren?
Für die deutsche Bundesregierung und die Parlamente wurde bei den Maßnahmen gegen die Corona-Epidemie die gesellschaftlich unabstreitbar relevante Bedeutung des Sports nicht bedacht, ignoriert, im Grunde nicht einmal zur Kenntnis genommen. So wie seit einigen Jahrzehnten auch der Schulsport von jeder Kultusminister-Konferenz zur „Nebensache“ und damit genauso behandelt wurde. Die Antworten der Bundesregierung auf eine FDP-Anfrage zu diesem Thema aus dem Monat April 2021 sind erschreckend. Alleine die Folgen durch Aussetzen präventiver und rehabilitativer Aktivitäten in und durch Vereine und Fitness-Studios werden schwerwiegend sein. Eine Rechnung, die deutlich teurer werden wird, als die Kosten der Risiken, die es vermeiden sollte.
Der DOSB selbst erwies sich mit seinen Repräsentanten als ein „liebenswerter Partner“ des vorhandenen politischen Systems, an Nettigkeit kaum zu überbieten. Der Sportausschuss des Deutschen Bundestages erwies sich während der Epidemie in Deutschland wieder einmal als völlig unbedeutend und ohne irgendeinen Einfluss auf die wichtigen politischen Entscheidungen für Vereine und Verbände. Gerne würde ich wissen, ob es mehr Menschen geht wie mir: Ob die Olympischen Spiele in Tokyo stattfinden oder ausfallen, ist für mich zwischenzeitlich eine völlig unbedeutende Frage geworden. Und das als Sportler …
Dabei kommt diese unterirdische Behandlung des Sportes noch zu anderen bestehenden Problemen hinzu: dem Langzeit-Thema Doping-Betrug im Hochleistungssport, den korrupten Gremien einiger nationaler und auch internationaler Sportverbände, dem „Parallel-Universum des Fußballes“, usw.. Verdichtende Hinweise gibt es auch darauf, dass auch die Selbstverwaltung des organisierten Sportes nicht mehr funktioniert, jedenfalls nicht, wie sie im Sinne der Bedeutungsförderung funktionieren sollte: https://www.ndr.de/…/meh…/Schenk-DFB-DOSB,schenk166.html
Wir alle müssen uns der Tatsache stellen, dass Sport enorm an Bedeutung in unserer Gesellschaft, in unserer Politik verloren hat. Auf welchem Bedeutungs-Level er vor der Pandemie war, kann ich gar nicht mehr erkennen. Neue Strukturen und Bedeutungsmuster müssen alle Sportarten für sich selbst definieren und finden. Der in Deutschland organisierte Sport hat bislang nicht nur scheinbar sondern nun ganz sicher bei der deutschen Politik kein Gehör. Das kann nicht wegdiskutiert werden und sollte bei allen jetzigen Entscheidungsträgern im Gedächtnis bleiben. Ständig in Erinnerung gerufen werden. Die demokratischen Sportselbstverwaltungs-Institutionen haben eine Menge Hausaufgaben vor der Brust. Und vom DOSB oder dem Sportausschuss im Deutschen Bundestag darf erwartet werden: Schulsport – von Klasse 1 an – muss als Wegbereiter einer Leistungsfähigkeit und Gesundheitsförderung von Anfang an für alle Kinder und Jugendlichen außer Frage stehen und bei Kultusministerien zu den TOP 3 der Bildungspolitik gehören. Da alle Kultusministerien in der Vergangenheit bewiesen haben, dass sie das noch immer nicht verstanden haben, können wir uns auf diesem Gedanken ausruhen und der Sport wird irgendwann gegen Adipositas und andere Krankheiten keine Chance mehr haben. Oder wir tun etwas …
Wenn der selbstorganisierte Sport nach einem möglichen Ende dieser Epidemie keine Bankrotterklärung abgeben möchte, dann sollte sich Sport-Deutschland jetzt nicht in Prokrastination verlieren, sondern anfangen seine Bedeutung argumentativ zu forcieren und Mehrheiten für einen massiven Bedeutungsgewinn zu organisieren!