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Tischtennis in Deutschland – Gefangen in alten Denkmustern

Von Thomas Dick, Hinterzarten

Seit 1989 hat der deutsche Tischtennissport – ungebremst – knapp 350.000 Spielerinnen und Spieler verloren. Im Durchschnitt waren dies in dieser Zeit jährlich zwischen 8.000 – 10.000 Mitglieder. Dieser Mitgliederverlust ist der größte Verlust, der für unsere Sportart jemals dokumentiert wurde. Ein naheliegender Schluß daraus ist, dass wir nicht so weitermachen können wie bisher und zugleich erwarten, dass unsere Sportart und damit auch unsere Vereine/Abteilungen weiter existieren. Einen Gedanken davon müssen wir aufgeben müssen!

Weshalb fällt unserer Sportart die Anpassung an eine neue Welt und die Umorientierung zu einer stabilen Mitgliederentwicklung und vor allem einer nachhaltig akzeptierten Sportart so schwer? Was sind unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Tendenzen und Erscheinungen die Gründe dafür?

Jede(r), der/die im deutschen Tischtennissport übertragene Verantwortung in Verein oder Verband besitzt (demokratisch gewählt/legitimiert), weiß ebenfalls, dass es so wie in den letzten 34 Jahren nicht weitergehen kann. Oder weiß es (noch) nicht! Jedenfalls ist zu beobachten, dass die überwiegenden Verantwortlichen in Vereinen und Verbänden so weiter machen wie bisher … als hätte sich in dieser Zeit die Welt nicht weitergedreht/weiterentwickelt, als wäre kein Virus aufgetaucht und hätte uns aus der Bahn geworfen, als würde es keine Digitalisierung und SocialMedia geben und schon gar keinen massiven Mitgliederverlust in Tischtennis-Deutschland.

Es ist Zeit Dinge klar und offen anzusprechen. Auch, weil eine Tendenz in Deutschland ist, sich zurückzuhalten und so tun, als wäre alles in Ordnung, dem “breiten Konsens” zu fröhnen und die Situation schön zu reden oder stur auf einmal getroffenen Meinungen zu beharren. Neben diesem „Mitläufereffekt“ drängt sich aber immer und immer wieder bei allen nachzulesenden Veröffentlichungen und Berichten in unserer Sportart der wohl berechtigte Verdacht auf, dass auch „unsere Leute“ eine Tendenz aufweisen, dem einflussreichsten psychologischen Fehlschluss zu unterliegen: der kognitiven Dissonanz!

Auch wenn 2023 eine „Bremsung“ im kontinuierlichen Mitgliederverlust eingetreten ist, wird weitergemacht wie bisher: „Bei uns ist nichts zu spüren“ oder „Schwund ist in allen Sportarten“ oder noch besser: „Wir haben viele Anreizsysteme für Vereine, um Mitglieder zu werben – sie müssen nur angewendet werden“ oder „Darum machen wir ja jetzt unsere Strukturreformen“. Ob und in welcher Weise hier ein „Nach-Corona-Effekt“ zum Bremsen des Mitgliederverlustes beigetragen hat? Keine Umfragen, keine Aussagen. Keine Daten.

Das ambitionierte Ziel (oder ist es vielleicht doch nicht ambitioniert?) des Spitzenverbandes und seiner Landesverbände in Deutschland, den Mitgliederrückgang zu stoppen, scheitert nun schon über drei Jahrzehnte regelmäßig und verfehlt die Erwartungen der Initiatoren. Es führt aber bedauerlicherweise nicht dazu, dass irgendjemand auf die Idee kommt und anmerkt, dass man sich mit seinen Ideen oder Strategien vielleicht geirrt haben könnte und keine so richtig funktioniert. Alle Gehirne arbeiten gleich (das ist bekannt), manche kennen es vielleicht von sich selbst: Dieser innere Widerspruch bei vielen Dingen … und dann das Schönreden und Selbstrechtfertigen … das bringt wahnsinnige Entspannung.

Das große Problem an der unsrigen Sache ist allerdings: Wenn sich auch noch eine sogenannte „Sunk Cost Fallacy“ einstellt, also der Unwille, ein gescheitertes Projekt (was sich in unserem Fall überall „strategische Mitgliedergewinnung“ nennt) aufzugeben, wird es noch fataler. Weil viel investiert wurde, wird unbarmherzig an Dingen festgehalten, die von außen betrachtet oftmals führungspsychologisch und organisatorisch ziemlich unwirksam sind. Jedenfalls in der nachher messbaren Gesamtbilanz. Wenn sie wirksam wären, müssten wir uns hier nicht damit beschäftigen. Nachgewiesen ist übrigens, dass die „Sunk Cost Fallacy“ nicht nur bei Investitionsverlusten auftritt sondern auch bei drohenden Imageverlusten. Verbände und ihre Vertreter(innen) haben die Neigung, um jeden Preis und gegen alle vernünftigen Argumente „ihre Ideen“ aufrecht zu erhalten, weil sie sich selbst nicht eingestehen können, dass diese „Ideen“ vielleicht doch nicht so clever waren. Und damit sind Ansehen und/oder Lebenszweck massiv bedroht.

Führungspsychologisch wären einige Dinge und Verhaltensweisen, die sich mit dem Stopp des Mitgliederrückganges in Vereinen und Verbänden beschäftigen, deshalb zu hinterfragen. Organisationspsychologisch haftet der massive Mitgliederschwund, die „Bewegungsstarre“ und die fehlende Modernisierung vielen Vereinen und Verbänden letztlich an. Aber keiner will die Verantwortung für den freien Fall unserer Mitgliederzahlen übernehmen. Ich habe jedenfalls noch kein entsprechendes selbstkritisches Statement dazu gehört. Das „Große Ganze“ (Tischtennis in Deutschland) und den gemeinsamen Blick darauf, der enorm wichtig wäre, vermisse ich schon seit 40 Jahren.

Wenn man die Problematik des „Sich-nicht-ändern-wollens“ verstehen möchte, die sich noch immer auf die Mehrheit unserer Vereine bezieht, muss man sich zwangsläufig auch und besonders mit dieser tendenziösen Entwicklung vieler Menschen zu kognitiver Dissonanz beschäftigen. Das menschliche Hirn mag alles – nur keine Ambivalenz. Meisterhaft ist es darin, sich selbst in die Tasche zu lügen. Das ist auch der Grund dafür, das noch immer die überwiegende Anzahl an Menschen, die sich in Vereinen und Verbänden betätigen, sich engagieren, auf die Lösung eines Problems oder mehrerer Probleme verlegt haben, sehr „persönlich“ reagieren, wenn man darstellt dass ihre Lösungen nicht zum eigentlichen Problem passen.

Neu nachdenken? Anders denken? Zusammenarbeit suchen, um neue Lösungsansätze zu finden? Gespräche, Meinungsaustausch, Diskurs, Vielfalt von Problemlösungsansätzen? Eigentlich Aufgabe von Verbänden, die die Interessen Ihrer Mitglieder (Vereine) vertreten sollen … weitestgehend Fehlanzeige … Stattdessen ist das übliche Verhalten zu beobachten: Alten Wein in neuen Schläuchen zu verkaufen. Das „Problem“ (in unserem Fall Mitgliederrückgang seit über drei Jahrzehnten) wird so verändert, dass es zwar nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun hat, aber es passt wieder zu ihrer Lösung.

Beispiel: „Die Kinder sind heute so schwierig, finde mal dafür einen Trainer/eine Trainerin, die sich das antut!?“

Natürlich gibt es Trainer(innen), die auch mit schwierigen Kindern umgehen können. Aber diese Trainer(innen) würden Trainingsstrukturen und -Organisation verändern müssen, um dieses Problem zu beheben … und dies scheitert dann häufig wiederum an demjenigen, der das Problem beklagt. Wobei ich – by-the-way – schon lange anrege, sozialkompetente Konfliktlösungs-Methoden und -Strategien in die Trainerausbildung der C- und B-Lizenz viel stärker einfließen zu lassen und die Absolventen besser auf das vorzubereiten, was sie im gewöhnlichen Vereinsalltag erwartet. Das setzt bei Trainerabsolvent(inn)en eben auch ein erhötes Maß an Frustrationstolerenz voraus. Und darauf müssen sie gut vorbereitet werden; die Aussteigerquote von Trainerinnen und Trainer mit Basisausbildung in den ersten vier Jahren nach ihrer Ausbildung ist dafür viel zu hoch.

Bereits seit Mitte der Neunziger Jahre ist ohne jeden Zweifel unter den führenden deutschen Gehirnforschern belegt: das menschliche Hirn ist zeitlebens umbaufähig! Bis zum letzten Tag können neue Synapsen sprießen, neue Verschaltungen entstehen, könnte man seine inneren Einstellungen, seine Verhaltensweisen, die Art und Weise, wie man unterwegs ist, verändern. Mit 60, 70 oder 80 Jahren … kein Problem. Doch warum passiert das so selten? Warum ist die Tendenz zu kognitiver Dissonanz so weit in unseren Organisationen verbreitet?

Wir Deutschen hegen und pflegen bekanntlich einen Hang zum Perfektionismus. Dafür werden wir im Ausland beachtet. Die Kehrseite der Medaille ist allerdings: Der Blick „aufs Große Ganze“ geht mit der Neigung, jeden kleinsten Fehler zu vermeiden, definitiv verloren. „Klein-klein“ ist die Folge, Flickschustern, an Symptomen herumdoktern, statt Ursachen zu beseitigen. Schön zu beobachten bei „Strukturreformen“ in Landesverbänden. Das mündet in den allermeisten Fällen auch in unserer Sportart in teils absurden, starren Regeln, die nur durch eine diffuse Angst, nicht alles im Griff zu haben, alles unter Kontrolle haben zu wollen, erklärbar ist.

Beispiele: Ordnungsstrafen (die – rein führungspsychologisch – ins letzte Jahrhundert gehören) oder auch daraus resultierend Zustände, die man fast nur im Tischtennis kennt: Es gibt keine Schiedsrichter, die einen Wettkampf zwischen zwei Parteien leiten, es gibt kaum Spieler und Betreuer, die die Regeln korrekt kennen. Aber die Vereine müssen im überwiegenden Teil der deutschen Landesverbände „Ordnungsstrafen“ dafür zahlen, dass sie keinen ausgebildeten Schiedsrichter zur Ausbildung anmelden. Falls denn dann einer da wäre, ist dann die gelebte Praxis, dass entweder die Verbände selbst keinen Wert darauf legen, dafür zu sorgen, dass dieser bei Meisterschaftsspielen – egal in welchen unteren und mittleren Ligen – als Schiedsrichter eingesetzt wird oder b) dass ein ausgebildeter Schiedsrichter des Vereins möglicherweise dem „Selbst-Spielen“ oder anderen Dingen Vorrang einräumt, weil es unattraktiv ist, sich für das geltende Regelwerk einzusetzen. Und Spieler streiten sich weiter ständig darüber, wie die Regeln jetzt eigentlich sind. Oder spielen von Beginn an nach Gewohnheitsrechten, in denen die geltenden Regeln gar keine Anwendung finden. Und damit führt sich das gesamte System der Judikative in unserem Sport ad absurdum – bis auf die Einnahmen durch Ordnungsstrafen der Verbände. An Absurdität kaum überbietbar und in kaum anderen Sportarten zu beobachten.

Entscheidungen in seiner ganzen Tragweite nicht überblicken zu können, kann man niemanden zum Vorwurf machen. Schlimm ist das Ganze, wenn aber stur die Unwägbarkeiten und fehlenden Ergebnisse ignoriert werden. Wenn Eingeständnisse fehlen, die klar zu erkennen geben, dass man in die falsche Richtung unterwegs ist. Und dass man nicht vertrauen kann und „Anreizsysteme“ benötigt, damit Vereine „funktionieren“. Wer allerdings nicht vertrauen kann – egal op in Verband oder Verein – wird scheitern, weil er alles selbst erledigen oder mindestens haarklein kontrollieren muss. Wem nicht vertraut wird, der läuft an der Leine oder ins Leere und führt seinen Verein oder Verband eigentlich gar nicht.

Nur durch das ehrliche Eingeständnis, eine falsche Richtung eingeschlagen zu haben, wäre eine Korrektur und Veränderung (zum Besseren!) möglich. Doch danach sieht es bei uns nicht aus: Zahlreiche Anreizsysteme für Vereine, keine authentische und ehrliche Wertschätzung und Respekt für das Ehrenamt und die Arbeit von Trainer(inne)n, fast ausnahmslos Leistungs- und Hochleistungssport und die Organisation von „Top-Veranstaltungen“ im Focus, nur Hochglanzbroschüren, PR-Aktionen und schöne Bilder, die die Tatkraft darstellen, keine Dienstleistungsauffassung und kein Interesse für den aktuellen Zustand unserer Sportart an der Basis und das Weiterentwickeln unserer Vereine. Eigentlich müsste jemand sagen: „Sorry, hier läuft etwas gewaltig schief. So funktioniert das Ganze dann noch nicht. Wir müssen uns zusammensetzen und beginnen, noch einmal neu nachzudenken.“

Doch damit tun sich die Verantwortlichen für unseren Sport schwer. Scham, Trotz, Stolz, Eitelkeit … ignorieren den weiterhin massiven Mitgliederverlust in Tischtennis-Deutschland und den Zustand des überwiegenden Teils unserer Vereine, trotz ebenfalls einiger guter Gegenbeispiele, die leider aber immer noch eine verschwindende Minderheit bleiben. Läuft dies alles so weiter – und da muss man kein Prophet sein – gehen in 25-30 Jahren die Lichter in Tischtennis-Deutschland aus. Und das wars dann mit Roßkopf, Boll und Co und einem Land, dass einmal über eine Million begeisterter Spielerinnen und Spieler hatte. Und das ist keine Apokalypse …

Das eigentliche Drama aber aus all den Erfahrungen der letzten drei Jahrzehnte ist: Auch hier wird mit hoher Wahrscheinlichkeit niemand hingehen, und die bisherige Praxis der „Mitgliedergewinnung“, die sich im „großen Ganzen“ als Irrtum erwiesen hat, nunmehr freiwillig stoppen. Es wird scheinbar zu einer Entwicklung kommen, bei der es ziemlich unwahrscheinlich wird, dass unsere Sportart überleben wird. Der Leidensdruck wird steigen, Vereine müssen immer weiter reisen, um ihre Wettkämpfe auszutragen und sich nur noch um sich selbst drehen. Sie werden rebellieren gegen immer weiter steigende Zahlungen an ihre Verbände. Und die werden sich damit selbst abschaffen. In vielen Verbänden ist schon lange zu beobachten, dass die Dienstleistungsauffassung zwischen Verband und Verein sich ins komplette Gegenteil verkehrt hat …  

Es wird sein wie beim Klimawandel … nur mit dem Unterschied, dass der Leidensdruck hier zu keiner Verhaltensänderung mehr führen kann. Es wird dann definitiv zu spät sein.

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