Corona ändert alles. Und deckt viele bisherige Alibis und Schwachstellen auf. Mit den Werkzeugen von gestern sind die Probleme von morgen in unserem Sport deshalb nicht mehr zu lösen. Das bisherige Denken ist ein großer Teil unseres Problems. Zeit für einen kritischen Blick auf die Dinge, die sich in Deutschland ändern sollten. Und auf die Frage, was uns die Zukunft unseres Sportes wert ist.
von
Thomas Dick, Dannenberg
(Teil 1)
Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. Damit sich dies nicht nur auf „Hygienekonzepte“ zum Wiedereintritt in Training und Wettkampf bezieht, möchte ich einen kritischen Blick auf den Status Quo unserer Sportart werfen. Um zum Nachdenken anzuregen. Was dazu benötigt wird, ist die Unvoreingenommenheit des Lesers (die aber durchaus eine kritische Distanz haben kann) und seine Phantasie und Kreativität. Mir geht es vor allem darum zu fragen, ob wir uns mit unserem Sport ganz offenkundig in einer Sackgasse befinden, aus der wir erst dann wieder herauskommen können und werden, wenn wir ehrlich gelernt haben, Veränderungsnotwendigkeiten ernst zu nehmen und Argumente auszutauschen und gegenseitig zuzulassen. Und zwar so, dass diese eine Chance haben zunächst einmal an uns heran zu kommen, bevor wir sie verurteilen oder bewerten. Die momentane Krise bietet dazu eine ideale Gelegenheit, weil Vieles entschleunigt und aufgedeckt wurde.
Nutzen wir sie?
Michael Gross wurde kürzlich gefragt, was er als Unternehmens- und Personalberater den Menschen für den Umgang mit der Corona-Krise mitzugeben habe. Er griff tief in Kiste der bekannten Sportmetaphern: „…man solle die Zeit des Lockdowns wie ein Trainingslager begreifen“, riet der dreifache Schwimm-Olympiasieger, „als eine zeitlich begrenzte Phase mit klaren Strukturen und einer Konzentration aufs Wesentliche. Die Tatsache, dass wir einige Regeln und Abläufe einfach nicht mehr aufrechterhalten könnten, dass das Motto „Das haben wir schon immer so gemacht“ außer Kraft gesetzt ist, könne jetzt dazu führen, dass wir auch nach der Krise zu Verbesserungen kommen“, erklärte der 55-Jährige in einem Interview mit der FAZ. Und: „Dazu braucht es in Zeiten von Corona vier Dinge: Flexibilität und Kreativität beim Erarbeiten neuer Lösungen, Disziplin und Ausdauer bei der Umsetzung, aktuell bei den Verhaltensvorgaben durch die Pandemie, aber auch, um Vereine und Verbände neu auszurichten.“
Ohne pessimistisch sein zu wollen oder den „Spielverderber“ zu spielen (in einem Land, in dem man immer gerne auf den Überbringer schlechter Nachrichten draufhaut anstelle auf den Verursacher): ich befürchte momentan, dass diese Veränderungsbereitschaft nur schwer in Gang kommt. Die lautgewordene Kritik am Covid-19-Schutz- und Handlungskonzept des Deutschen Tischtennis-Bundes als Hygienekonzept zum Wiedereinstieg in Training und Wettkampf ist nur ein Beispiel von vielen, in dem sich dies widerspiegelt. Es geht um etwas viel Tiefgreifenderes, … und das müsste sich bald in unserem Sport in Deutschland ändern! Ich möchte deshalb versuchen, einzelne Punkte zu „kategorisieren“, durch die unsere Sportart deutlich bessere und intensivere Impulse erhalten könnte als bisher. Ausdrücklich ausnehmen hiervon möchte ich hier alle Vereine, die in ähnlicher Weise wie die hier aufgeführten Gedanken bisher bereits “Entwicklungsarbeit” in ihren Vereinen (und möglicherweise Verbänden) leisten:
- Veränderungsbereitschaft der Vereine in vielen wichtigen Punkten (besonders: weibliches Tischtennis (!), Senioren-Tischtennis, Moderne Finanzierung, Qualifiziertes Training für alle Altersklassen, Regelmäßige zeitgemäße tischtennisspezifische als auch Führungs-Weiterbildungen für Vorstandsmitglieder aus Vereinen, etc.)
- Investitionen der Vereine in die richtigen Dinge (Was ist uns unsere Tischtennis-Zukunft im Verein wert?)
- Schaffung einer funktionierenden Judikative der Verbände auf allen Ebenen des Wettkampfbetriebes (Warum sind wir nicht in der Lage, unser eigenes Regelwerk auf allen Ebenen durchzusetzen?)
- Schaffung eines einzigen und einheitlichen Spielsystems in ganz Deutschland für Mannschafts-Wettkämpfe durch die Verbände auf allen Ebenen des Wettkampfbetriebes
- Bewusste, gewollte und akzeptierte Anerkennung fachlich qualifizierter Trainer(innen)-Arbeit in Vereinen zum gegenseitigen Nutzen
Im ersten Teil dieses Artikels soll es um die ersten beiden dieser fünf Punkte gehen, die ich als elementar für eine grundsätzliche Diskussion um die Zukunft unseres Sportes ansehe. Teil 2 folgt dann in wenigen Wochen …
- Veränderungsbereitschaft der Vereine (und Verbände)
Wenn Menschen sich in ihrer Haut nicht wohl oder unsicher fühlen, kann beobachtet werden, wie sie immer wieder Merkwürdiges machen: sie bleiben beim „Alten“. Zu beobachten ist dies vor allem in vielen unserer Vereine, gefühlt der Mehrheit aller Vereine – und das nicht nur jetzt in dieser Krise, sondern schon Jahre zuvor. Menschen, die in der Führungsverantwortung ihres Vereins sind, schwelgen nicht nur derzeit gerne in der Vergangenheit und zeigen und erzählen dies. Auf Facebook oder diversen Internetseiten der Vereine kann man das z.Zt. sehr schön beobachten. Während uns ein Virus eigentlich das dringende Verändern lehrt und uns auffordert, den Blick und unsere Kreativität in die Zukunft zu richten, werden Chroniken und „tolle alte Videos“ herausgeholt und veröffentlicht. „Das waren noch Zeiten …“…
Diese Menschen haben alle etwas gemeinsam, nämlich die Tendenz, an dem festzuhalten, was ist. Und wenn irgendetwas anderes passiert, was unvorbereitet ist, dann versuchen sie es immer mit noch mehr Anstrengung in die gleiche Richtung. Wir kennen das auch aus dem psychotherapeutischen Kontext, das nennt sich dann dort „Mehr vom Selben“. Das ist im Grunde das Ornament der Neurose: man verstärkt also seine Anstrengungen immer wieder in die gleiche Richtung … und versucht gar nichts Neues zu machen …
Belegt werden kann dies u.a. durch einen sehr interessanten Forschungsansatz aus den USA, wo ein amerikanischer Professor einem Setting von Menschen eine Kaffeetasse gegeben hat. Es waren etwa 200 Leute und die hatten dann diese Kaffeetasse. Und dann hat er ihnen im Tausch gegen die Kaffeetasse einen Schokoriegel angeboten. 70% der Probanden hielten an dieser Kaffeetasse fest und 30% tauschten die gegen den Schokoriegel. Dann hat er wiederum einem Setting von 200 Menschen, anderen Menschen, einen Schokoriegel gegeben und im Tausch gegen den Schokoriegel jeweils eine Kaffeetasse angeboten. 70% der Probanden hielten an diesem Schokoriegel fest.
„Verlustaversion“, usw. hat damit zu tun; das ist ein bekanntes Phänomen aus der Psychologie. Was sich zeigt? Viele Vereinsverantwortliche in Deutschland sind im Kern alle Reaktionäre: sie verherrlichen die Vergangenheit („Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“) oder im psychotherapeutischen Kontext: „Lieber das bekannte Unglück als das unbekannte Glück“. Und damit ist die Ahnungslosigkeit (die ich zunächst niemanden vorwerfen möchte) das Hinweisschild zum Holzweg – den wir in unserer Sportart schon seit mindestens zwei Jahrzehnten gehen.
Angesprochen darauf, wie es wäre, mit der Zeit zu gehen (weil man sonst mit der Zeit geht …), hinterlässt eine solche Frage bisher wenig Eindruck: „Ja, und? Ich mache das schließlich ehrenamtlich! Habe „keine Zeit“ für mehr und … außerdem: das haben wir immer schon so gemacht!“ … sind u.a. die Killerargumente, mit dem sich jeder in die Verantwortung Gewählte genau aus dieser Verantwortung auch wieder verbal herausgestohlen hat, wenn er mit Weiterentwicklungsideen konfrontiert wurde. „Verwalten statt gestalten – ist schließlich ein Verein und keine Firma …wir machen ja „nur“ Breitensport“. Kann man so sehen … muss und sollte man aber nicht. Schon im eigenen Interesse nicht …
Mich interessiert in diesem Kontext allerdings weniger die Frage, warum Menschen einen Verein ehrenamtlich „top organisiert“ leiten können und gleichzeitig einen stressigen und zeitaufwändigen Beruf haben. Und andere, die weniger beruflich beansprucht sind, dies nicht so gut können. Mich interessiert hier eher die Frage: Wo sind die Veranstaltungen, die Meetings, auf denen Verantwortliche unserer Sportart aus Verbänden und Vereinen so realistisch wie machbar und mutig darüber nachdenken, diskutieren und auch streiten können, was sie künftig gerne in Deutschland im Tischtennis hätten? Wie soll Tischtennis-Deutschland in 5 Jahren aussehen? Ihr eigener Verein? Ihr eigener Landesverband? Was würden sie gerne dort verändern … z.B. beim Thema Mädchen- und Damen-Tischtennis, Senioren-Tischtennis, Schiedsrichter in den Hallen, Zuschauer auch in Kreisklassen bei Mannschaftswettkämpfen, solide Finanzen durch viele Mitglieder und zeitgemäß verkaufbare Monatsbeiträge, qualifizierte Trainings- und Coachingarbeit, die eine hohe Motivation bei Spielerinnen und Spielern erzeugt, z.B. beim Thema Spielsysteme im Wettkampfbereich, Imagearbeit an und in unserem Sport oder – last but not least – beim Versuch, den seit 30 Jahren weglaufenden Tischtennisspieler(inne)n einen Erklärungsversuch abzuringen … weil man sich möglicherweise schon mal ein paar Gedanken gemacht hat, welche Folgen dies langfristig haben wird.
Eine Grundinvestition in den Verstand würde also fragen: Welche Ideen, welche Tools, welche Systeme, Methoden, Verfahren wären erforderlich und würde man benötigen, um vom ständigen Diskutieren im eigenen Verband über Spielsysteme und Klasseneinteilungen und vom organisatorischen und außendarstellerischen Mittelalter vieler Vereine den Sprung in die Neuzeit wagen zu können? Ins Digitalzeitalter, das zweite Maschinen-Zeitalter, in dem es keine einfachen Antworten mehr auf die Fragen unserer Zeit gibt, weil es einen enormen gesellschaftlichen Umbruch gibt. In dem man innovativ und kreativ sein muss. Bei allem! Wenn die meisten Vereine in Deutschland gedanklich noch immer am Gestern festklammern, dann wissen zukunftsorientierte Verteidiger unserer Sportart, dass man sich das schenken kann. So wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen in der zumindest professionellen Trainingsarbeit auch immer ein bisschen nerven und fragen: „Was wird gebraucht? Wie geht das besser? Schöner oder anders? Wie können wir uns weiterentwickeln? Effektiver? Sinnvoller? Was ist möglich? Wie und wann? Und vor allem: Warum?“
Wie wäre es beispielsweise mit progressiven Ideen …? …
- Um dem Problem der „mangelhaften Ehrenamtsbereitschaft“ formalorganisatorisch zumindest einen neuen Blickwinkel zu geben, könnte diskutiert werden: Satzung des Vereins ändern, die Wahlperiode für einen gewählten Präsidenten oder Abteilungsleiter beträgt 2 Jahre. Für die nachfolgende Wahlperiode darf dieser nicht für eine weitere Wahlperiode antreten … (zumindest in den Vereinen, die unter „Stillstand“ (Rückschritt) leiden, könnte dies „Bewegung“ in puncto Verantwortung und Kreativität für den eigenen Verein bringen)
- Der Mitgliedsbeitrag in einem Verein für Erwachsene beträgt (Beispiel:) € 20,-/Monat. Arbeitet das Mitglied im Vorstand mit, reduziert sich der Monatsbeitrag auf € 8,-. Dazu transparente und effektive Kurz-Meetings des Vorstandes 1 x pro Quartal (max. 90 Min.), um die jeweilige Entwicklung zu besprechen. Auswahl im Vorstand nach (beruflicher) Kompetenz …
- Qualifiziertes Tischtennis-Training ist für alle Vereine in Deutschland möglich und finanzierbar! Sogar für professionelle Trainingsarbeit. Akzeptiert man, dass in Satzungen bei der Verwendung der Mitgliedsbeiträge die Formulierung „Förderung des Tischtennissportes“ so schwammig und ungenau formuliert ist, dass daraus nicht automatisch abgeleitet werden kann, dass die Beiträge auch zur Finanzierung einer qualifizierten Trainer-Leistung im Verein ausgegeben werden, dann ist eine qualifizierte Trainer-Leistung immer eine „extern zu finanzierende Leistung“. Und die ist bei guter Argumentation gegenüber allen Mitgliedern verkaufbar, wenn über Probetrainings ein qualifizierter Kollege oder eine qualifizierte Kollegin das dafür notwendige Vertrauen bei den Mitgliedern erwirbt und einen guten Eindruck hinterlässt. Der „Anschub“ (und dessen Finanzierung) ist die erste „Investition“, die sich für einen Verein lohnen wird. Dazu gehört nur noch die Auswahl des richtigen Trainers/der richtigen Trainerin. Und ein bisschen Mathematik: Kosten des Trainers pro Stunde x Stundenzahl im Monat + Spesen = Betrag X : Anzahl der Spieler(innen), die in der Trainingszeit trainiert werden = Monatsbeitrag für qualifiziertes Training! (Im Übrigen könnten Satzungen auch dahingehend geändert werden, dass gleich als Satzungstext mitaufgenommen wird: „Externe Trainer/Trainingsleistungen sind immer extern zu finanzieren (z.B. durch Teilnehmerbeiträge, Zusatzbeiträge, o.ä.)!“
2. Investitionen der Vereine in die richtigen Maßnahmen (Was ist uns unsere Tischtennis-Zukunft im Verein wert?)
Wir alle, der DTTB und seine Landesverbände müssen uns nichts mehr vormachen: eine Tischtennis-Zukunft wird es nur gemeinsam geben. Gemeinsam mit anderen Vereinen, nur in Kooperationen. Damit sind keine Spielgemeinschaften gemeint, sondern Zusammenarbeits-Projekte, in denen der eine Verein vom anderen Verein lernt. Im besten Fall lernen beide und entwickeln sich weiter. Die Zahl der Vereine, die investieren, also ihre Zukunft gestalten, ist immer überschaubar gewesen (und wird immer überschaubarer), als die Zahl der Vereine, die lieber bei ihrem Trott bleiben, „sparen“ und business-as-usal praktizieren. Aber alle sollten wissen: Nur diejenigen, die keine Angst vor der Auseinandersetzung mit der Gegenwart und der Zukunft haben, haben eine Zukunft. Eine gute Zukunft. Und der DTTB sollte Wege finden, wieder den Kontakt zur Basis herzustellen; möglichst nicht virtuell sondern persönlich … um herauszufinden, wo diese Vereine sind und was die Mehrheit seiner Vereine wirklich davon abhält, sich ebenfalls in diese Richtung zu bewegen.
Vermittelt werden sollte: Investitionen sind Fortschritt, kein Zurück. Ein Vorwärts. Wer investiert, will verändern. Und es gibt keine Veränderung ohne Investition – auch wenn das noch immer schier unendliche viele Menschen glauben. Und Kaffeetassen gegen Schokoriegel tauschen … „Investiert in Talente, investiert in Beziehungen, investiert in Euch selbst, also in die Dinge, die ihr liebt und die Euch etwas bedeuten!“ … möchte man manchmal allen Vereinen zurufen, die im Dornröschenschlaf scheinen. Und investiert nicht blind …
Deutschland schwimmt in Geld. 6,3 Billionen Euro liegt auf Konten seiner Privathaushalte – ohne Immobilien(!). Aber Deutschland – und damit auch seine Vereine – leidet an Ideendefiziten. Und Angst. Wir haben oftmals in Vereinen „Sicherheitsgenerationen“, die sich zu wenig zutrauen, vor allem zu wenig Kreativität zutrauen, gerade jetzt in dieser Zeit der digitalen Revolution. Wir lebten und leben noch immer in großem Wohlstand und unter Bedingungen geringerer Unsicherheit – trotz Corona. Und das Dilemma heute:
Vereine, die glauben, sie brauchen keine vernünftige Internetseite, kein geregeltes, qualifiziertes Training und keine Wettkampfbetreuung im Nachwuchsbereich (auch nicht für ihre Erwachsenen), keine Social-Media-Kanäle, um für sich zu werben, keine moderne Vereinsstruktur (mit zeitgemäßen monatlichen Vereinsbeiträgen, die das Angebot des Vereins widerspiegeln), haben dazu selbstverständlich das gute Recht. Sie sollten in diesem Fall allerdings bereit sein, die daraus resultierende Konsequenz zu tragen, denn alles was sie tun, hat eine Konsequenz und alles was sie nicht tun ebenfalls.
Gesamthaft führt diese Haltung oder nur der Versuch, einer sachlichen und gedanklichen Auseinandersetzung mit der momentanen transformatorischen Entwicklung unserer Sport- und Gesellschaftslandschaft aus dem Weg zu gehen, ins Verderben. Kein Geld auszugeben (also zu sparen) wäre in diesem Kontext also nur der Versuch, das Tempo der Entwicklung so stark zu drosseln, dass man die Folgen selber nicht mehr erleben muss. Sie verlängern mit ihrer Haltung etwas, dessen Ende eigentlich absehbar ist. Und tragen damit sich selbst, ihren Verein und ihre Sportart zu Grabe. Und das, weil sie glauben, das Investieren eine totale Gewissheit braucht … was natürlich illusorisch ist.
Wir brauchen eine progressive Agenda für progressives Verändern … einer Notwendigkeit, wenn es einer Sportart nicht (mehr) gut geht.Im Tischtennis in Deutschland fehlen Debatten, Diskussionen, Meinungen austauschen. Man kann aber keine Debatte über eine progressive Agenda beginnen, wenn man die sportpolitischen und institutionellen Rahmenbedingungen als gegeben voraussetzt.
Eine progressive Agenda, progressives Führen definiere ich so:
Es geht um langfristigen sportpolitischen Fortschritt auf der Basis von klaren Konzepten und Zielen für mehr Mitglieder, mehr Trainerbeschäftigung, mehr Einnahmen in Vereinen. Dafür müssen Mehrheiten gewonnen werden. Dazu gehören gute Argumente und Sicherheit, eine stabile emotionale und sportliche Entwicklung aller Nachwuchsspieler(innen), Teilhabe von Vereinen an Projekten und Verbundenheit von Verbänden mit Trainer(inne)n, die ihr Hobby auf eigenes Risiko zum Beruf oder Teilberuf gemacht haben und machen möchten. Und eine große Solidarität untereinander! Wir hingegen erleben bis heute den Höhepunkt tischtennispraktischer Zufriedenheit immer noch, wenn alle Zeitungen gleichzeitig verkündigen können: “Timo Boll erneut Europameister”! Unser Land misst seinen Erfolg fast ausschließlich auf der Ebene von Hochleistungssport. Der ist nicht unwichtig, ganz im Gegenteil. Er hilft aber so gut wie gar nicht bei einer aktiven Mitgliedergewinnung … jedenfalls nicht in den vergangenen 30 Jahren. Die Nachweise dafür fehlen alleine durch die nackten Zahlen. Alle gewonnenen Titel von deutschen Mannschaften und Spieler(inne)n seit 1989 (einschließlich des WM-Titels von Roßkopf und Fetzner im gleichen Jahr) haben bis heute keinen Einfluss auf die Mitgliederentwicklung in Deutschland verzeichnet. Seit 1989 fallen die Zahlen kontinuierlich. Aber 1 Mio. Mitglieder in Vereinen in Deutschland … in einer der selbsternannten „Top-5-Freizeitsportarten der Welt“ … ist das ein utopisches Ziel? 1/80 der Bevölkerung würde eine der „Top-5-Freizeit-Sportarten“ in Deutschland betreiben? Wäre das so unrealistisch? Momentan ist die Quote 0,7% (!!) im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung … also etwa 1/160 …
Hochleistungssport und seine Qualität sagt nichts über die Qualität oder Verteilung der Veränderungsnotwendigkeiten in unserer Sportart aus; und schon gar nicht über deren externalisierte Kosten, bei denen Vereine und Spieler dafür bezahlen, dass es Negativtendenzen gibt und immer weniger Spieler(innen) übrigbleiben. Im Gegenteil: Es verschleiert vieles. Eine geringe Trainerbeschäftigung in Vereinen sagt wenig über die Qualität der Arbeit von Trainerinnen und Trainern in unserer Sportart aus, die arbeiten könnten. Alle anderen Indikatoren, die tatsächlich etwas über die Trainingsqualität aussagen würden, kommen im Diskurs der Lehrwarte in Land und Bund kaum vor: die sozialkompetente Qualität der Personalführung/Spielerführung/Talentsichtung von Trainer(inne)n; das Berufsrisiko, die (Weiter-)Bildungsmobilität zwischen Verbänden und Trainern; die tatsächlichen Zusammenhänge zwischen Verbands- und Vereinshandeln und der realen „Belastung“ durch die Ehrenamtlichkeit.
Wie kann also die momentane Situation Mitte des Jahres 2020 in Tischtennis-Deutschland wahrgenommen werden?
- Viele Vereine lagen schon vor der aktuellen Corona-Krise in einer scheinbaren „Schockstarre“, kaum Anzeichen für Erneuerung, Veränderung oder zukunftsfesten Ideen (Resilienz) mit und in den sozialen oder anderen Medien, kaum „Ausprobieren“ von neuen Ideen, Konzepten oder Ideen. Diskussionen über Veränderungsnotwendigkeiten in den Organisationsstrukturen der Vereine? Fehlanzeige. Viele glauben, sie können ein Vereinsproblem dadurch lösen, das sie aufs Ausprobieren verzichten. Damit ignorieren sie allerdings das Problem. Das wichtigste Investmentwerkzeug ist Nachdenken! Schonen, Aufschieben, Bewahren ergeben keinen Sinn. Langfristig Investitionswürdiges ist Mangelware.
- Der Deutsche Tischtennis-Bund veröffentlichte während der Corona-Krise in den Lockerungsphasen ein Covid-19-Schutz- und Handlungskonzept, das sich aus der Notwendigkeit ergibt, möglichst vielen Vereinen wieder den Zugang zu Ihrer Halle und später zu Wettkämpfen zu ermöglichen. Statt dem Dachverband zu danken, wird der DTTB von vielen Spielerinnen, Spielern und Vereinen für die „nicht oder kaum umsetzbaren Maßnahmen“ verantwortlich gemacht, belächelt und kritisiert … und der Kerngedanke des Konzeptes „erkenntnisresistent“ ignoriert.
- Einer der größeren Landesverbände in Deutschland veröffentlicht den Stand seiner Strukturreformen. Mit dem Ziel, den weiteren Mitgliederverlust zu verhindern. Mit zumindest zweifelhaften Methoden und „Reformen“. Veröffentlicht wird eine Textlänge, die eher an eine preußisch-spießige Verpflichtungserklärung erinnert. So, wie wenn das „Volk“ eben alles lesen muss, was „gemacht“ wird. Am Ende werden es die Wenigsten lesen … alleine schon wegen der Länge. Über 70jährige Verantwortliche, keine besondere Social-Media-Affinität feststellbar und eine Zielvorgabe, die sich damit selbst in Frage stellt.
- Professionelle Trainer(innen) erhalten kaum Aufmerksamkeit, Akzeptanz und Wertschätzung. Sie sind seit Mitte März 2020 mit einem Berufsverbot belegt, leben von Arbeitslosengeld II, müssen möglicherweise zunächst zugesagte Staatshilfen wieder zurückzahlen, weil die staatlichen Hilfen sich als Mogelpackungen entpuppen und sind gezwungen, sich beruflich neu zu orientieren. Hilfe aus der Tischtennisszene? Fehlanzeige. Viele werden gezwungen, nach einem neuen Standbein zu suchen, um ihre Familien und ihre Kosten finanzieren zu können. Etwas Investitionswürdiges geht unserer Sportart auch hier verloren. Deutlich anders hätte man seiner wichtigsten Mitarbeitergruppen auch den Rücken stärken können.
- Eines der größten Probleme in unseren Vereinen: der Dunning-Kruger-Effekt. Viele gewählte Vereins- und Verbandsvertreter(innen) merken oft nicht, dass sie mit vielen Einschätzungen in dieser neuen, gewaltigen Umbruchphase unserer Gesellschaft und ihren Auswirkungen auf unseren Sport falsch liegen. Insbesondere im Bereich zeitgemäßer Vereinsbeiträge oder Mitarbeiter (Mitglieder)-Führung. Halbwissen führt oft dazu, dass sie sich in ihrer Funktion überschätzen, sie treffen eher falsche Annahmen, weil sie sich weniger auskennen. Und haben gleichzeitig nicht das Wissen, den Fehler zu erkennen. Gerade Menschen mit wenig ausgeprägten Kompetenzen (die leider oft aus Bequemlichkeit gewählt werden) neigen dazu, ihre Fähigkeiten zu überschätzen. Und die Schlange beißt sich hier selbst in den Schwanz: eben genau wegen ihrer Inkompetenz sind diese Menschen wiederum nicht in der Lage zu erkennen, dass sie inkompetent sind. Stattdessen glauben sie, dass sie anderen überlegen sind und haben ein besonders ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Zumindest in ihrem Verein oder Verband. Dort halten sie sich für Experten … und zweifeln selbstverständlich die Kompetenz echter Experten an. Sich ständig selbst zu hinterfragen? Fehlanzeige! Andere um konstruktive Hilfe bitten? Fehlanzeige! Durch aktives Lernen wirklich zum Experten zu werden? Fehlanzeige!
- Ansonsten? Nichts … Schweigen, dass bis in die letzte Ecke Deutschlands zu hören ist. Schockstarre statt Aufbruch. Kein Aufruf die Gunst der Stunde mit viel Zeit zum Nachdenken und Diskutieren zu nutzen. Vereine und Verbände sind offenbar an Perspektivmangel erkrankt. Wo ist beispielsweise ein Aufruf wie:
«Spielt jetzt alle Tischtennis! Abstand garantiert! Animiert weitere Menschen dazu! Ein Lifetime-Sport der besonderen Art! Gebt Euer Geld für eine der schnellsten und spannendsten Sportarten aus! Top-Material und viele offene Mitspieler(innen) stehen Euch in unseren Vereinen zur Verfügung! Versucht Euch in der Komplexität und der Faszination unseres Sportes! Habt Spaß! Genießt auch die Kompetenz unserer Trainer(innen), die verschiedenen und auf jedes Niveau abgestimmten Trainings, die Möglichkeit, auch Wettkämpfe spielen zu können, alles was wir haben und bieten! Seid solidarisch mit unseren Spieler(inne)n, Vereinen und Trainer(innen).»
Unsere Vereine sollten wissen: Investieren und Sparen haben etwas Gemeinsames. Eine gemeinsame Voraussetzung, nämlich ein Ziel! Man muss etwas wollen und sich für etwas entscheiden! Und an dieser Stelle entsteht das eigentliche Problem, dass es auch mit einem Update zu beheben gäbe:
das Gesamtpaket aus
- Ideenlosigkeit,
- dem Mangel an Innovationsfähigkeit und
- dem fehlenden Interesse an einer gemeinsamen Zukunft …
… also den Zusammenhängen, um der momentanen Ohnmacht zu entgehen. Denn im Augenblick liegt den wenigsten Vereinen wirklich etwa daran, wie die Tischtennis-Welt in ihrem Umfeld und in unserem Land aussieht. Seit über 30 Jahren jedes Jahr rund 8.000 – 10.000 Mitglieder weniger? Egal. Jedes Jahr Wettkämpfe ohne Schiedsrichter und Regeleinhaltungen in einer scheinbaren Parallelwelt, in der nach Gewohnheitsrechten statt Regeln und dem entsprechenden Stress gespielt wird? Na und? Kein einheitliches Spielsystem für ganz Deutschland? Was kümmert mich das Spielsystem in Mecklenburg-Vorpommern? Was schert mich überhaupt die Weiterentwicklung meiner Sportart oder ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit?
Dadurch dass man sich nicht um diese Fragen kümmert, spart man sich die Auseinandersetzung. Alle empfinden sich dann allerdings als den einzig wahrhaftigen Maßstab. Das „Sich-nicht-interessieren-wollen“ für den Rest der Tischtenniswelt in Deutschland führt dann zu jener eigentümlichen Verlassenheit, die in sehr vielen deutschen Vereinen zu beobachten ist. Und die man „oben“ als Planlosigkeit kennt … Das Vereinsleben läuft in immergleichen Routinen ab, im Training, im Wettkampf, in der Verwaltung. Für das menschliche Hirn ist das der schleichende Tod. Nichts fängt an, nichts hört auf. Alle denken, da draußen gibt es nichts Interessantes mehr, keine Ziele … warum soll ich mich engagieren?
Rausgehen, etwas lernen, etwas riskieren oder Ziele haben? Warum lohnt sich das nicht mehr … ach ja … wir wollen scheinbar den Verlust der Hoffnung auf Besseres, also das, was man eigentlich Zukunft nennt. Es muss dringend ein Update her … die deutschen Vereine strahlen eine eigentümliche Verlassenheit aus…
Es bringt deshalb nichts, zu sparen, abenteuerlich geringe Monatsbeiträge von seinen Mitgliedern zu erheben und dabei die eigene Infrastruktur und die eigene Zukunft vergammeln zu lassen. Das Ziel von Investitionen ist kein Weiter-so, kein Gerade-mal-ausreichend, kein Erhaltungszustand („Das haben wir immer schon so gemacht!“). Aus vielen, vielen Vereinen in Deutschland sind Organisationen geworden, die in erster Linie auf ihren Erhalt, nicht auf die eigene Entwicklung zielen. Solche Vereine vermeiden – wie die Menschen, die sie anziehen – Risiken. Sie vermeiden Investitionen. Nun ist nichts daran falsch, wenn man sehr überlegt und vernünftig seine Risiken abwägt. Wenn das aber zum Hauptmotiv wird, läuft etwas grundlegend falsch. Rückschläge sollten also nicht als „Totalverluste“ hingenommen werden, sondern als Lektionen, wie man es besser machen kann.